Die Einsamkeit an der Spitze – Mythos oder Wahrheit?

Ist es an der Spitze der Hierarchie wirklich einsam? Woher kommt diese Einschätzung vieler Menschen? Was können Führungskräfte tun, damit sie in ihrer Rolle keine Einsamkeit spüren? Und warum fühlen sich manchmal auch Führungskräfte einsam, die gar nicht an der Spitze der Hierarchie, sondern im unteren oder mittleren Management sind?

Welches Bild von Führung haben Sie?

Führungskräfte tragen oft die Last von Entscheidungen, die das gesamte Team, vielleicht auch das gesamte Unternehmen betreffen. Diese Verantwortung kann isolierend wirken, da sie Entscheidungen oft allein treffen (müssen) und möglicherweise keine Gleichgesinnten haben, mit denen sie sich austauschen können.

Und genau hierin liegt ein veraltetes Verständnis von Führung: Eine Führungskraft ist unfehlbar, muss ihre Autorität wahren. Es gibt ein Machtgefälle zwischen Führungskraft und Team.

In Unternehmen mit moderner Führungskultur und modernerer Unternehmenskultur muss eine Führungskraft weder unfehlbar noch autoritär sein. Sie kann verletzlich sein und um Meinungen oder Rat fragen. In der heutigen komplexen Welt ist niemand mehr in der Lage, alle Entscheidungen alleine zu treffen, wir haben einfach nicht genug Wissen als einzelner Mensch.

Warum braucht es dazu eine bestimmte Unternehmenskultur? Wenn Teammitglieder sich nicht sicher fühlen, offen ihre Meinungen zu äußern, vergrößert das die Distanz zur Führungskraft. Es ist aber Aufgabe der Führungskraft, für die sogenannte psychologische Sicherheit zu sorgen. Dazu gehört, dass (abweichende) Meinungen offen geäußert werden dürfen, Fehler gemacht werden dürfen.

Wenn ein Diskurs entsteht, wenn vielfältige Meinungen herrschen dürfen, dann ist in der Regel die Führungskraft nicht einsam an der Spitze.

Immer wieder: Kommunikation

Distanz zwischen Führungskraft und Team entsteht, wenn keine offene und transparente Kommunikation möglich ist. Dann entsteht auch schnell das Gefühl von Einsamkeit an der Spitze.

Zu einer offenen Kommunikation gehören regelmäßige Team- und Einzelgespräche, vielleicht eine Open-Door-Policy, Feedback in alle Richtungen (auch das will gelernt und geübt sein), und Konsistenz in der Kommunikation.

Wenn Führungskräfte mit den Teams offen kommunizieren, gemeinsam Kommunikationsregeln etablieren, voneinander wissen, wie sie bevorzugt kommunizieren, kann ein tolles Miteinander entstehen.

Nicht zu vergessen: der informelle Austausch beim gemeinsamen Mittagessen oder Kaffeetrinken ist ebenfalls sehr förderlich für ein Miteinander statt einem „oben und unten“. Diesen informellen Austausch bekommt man auch sehr gut virtuell hin. Auch hier: am besten gemeinsam mit dem Team festlegen, was die richten Wege sind. Einsamkeit? Eher Fehlanzeige.

Einsamkeit durch mangelnde Selbst-Fürsorge

Klingt komisch? Beobachte ich aber immer wieder bei meinen Klienten und Klientinnen.

Wenn im Kopf noch ein Führungsmodell herrscht, bei dem erwartet wird, dass Führungskräfte ihre Arbeit an erste Stelle setzen und persönliche Bedürfnisse hinten anstellen, führt dies schnell zu Überarbeitung. Im schlimmsten Fall meldet sich auch der Körper und im allerschlimmsten Fall wird das erst viel zu spät gemerkt.

Wenn Führungskräfte sich vollständig auf ihre Arbeit konzentrieren, vernachlässigen sie oft Familie, Freunde, Erholung und Freizeitaktivitäten. Damit nimmt die Zahl der sozialen Kontakte wiederum ab – die Führungskraft wird einsamer. Das mitschwingende schlechte Gewissen ist auch nicht hilfreich.

Clevere Delegation, weniger Kontrollzwang

Damit Delegieren gut funktioniert, muss im ganzen Team klar sein, wer wofür verantwortlich ist. Diese Klärung sollte in regelmäßigen Abständen besprochen werden und, falls nötig, angepasst werden. Ich empfehle auch immer, die Verantwortlichkeiten schriftlich zu dokumentieren. Wenn Dinge aufgeschrieben werden, wird manchmal erst deutlich, wie ungenau sie besprochen wurden.

Wenn Sie als Führungskraft Verantwortung abgeben, entlasten Sie sich einerseits, andererseits geben Sie Ihren Teammitgliedern die Chance, sich weiterzuentwickeln.

Delegieren heißt nicht, jemand eine unangenehme Arbeit auf den Tisch zu werfen und zu verschwinden. Delegieren heißt, mit den Mitarbeitern darüber zu sprechen, was zu tun ist (siehe oben, klare Verantwortlichkeiten) und eine Vereinbarung zu haben, dass bei offenen Fragen, Problemen oder unerwarteten Widerständen eine Rücksprache nicht nur erforderlich, sondern erwünscht ist. Damit löst Kommunikation die Kontrolle ab, gleichzeitig ist das Thema Einsamkeit der Führungskraft nicht mehr relevant.

Ihr Weg zur Führungskraft?

Leider ist es immer noch häufig so, dass die besten Spezialisten zu Führungskräften ernannt werden. Oft, aus dem Bestreben heraus, einem geschätzten Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin eine Beförderung und finanzielle Anerkennung zu ermöglichen, die sie im „Expertenstatus“ nicht erhalten können. Dass hier die Wurzel des Problems in der Unternehmenskultur liegt, ist offensichtlich.

Wenn Sie nun aber eine solche Führungskraft sind, sich auch reichlich überlegt haben, ob Sie diese Aufgabe übernehmen wollen, haben Sie Unterstützung vor oder nach Ihrer Ernennung erhalten? Daran fehlt es nämlich auch oft.

Bisher war ihr Fokus stark auf Ergebnisse, Zahlen und die Einhaltung von Prozessen, oder auf Innovation gelegt. Zwischenmenschliche Beziehungen und die emotionale Intelligenz spielten keine wichtige Rolle, solange die Arbeitsergebnisse gut waren. Als Führungskraft sind sie plötzlich mitten drin: Urlaubsplanungen, Krankheitsausfälle, Beförderungswünsche….. Wenn Sie sich jetzt abschotten, werden Sie in der Tat einsam.

Suchen Sie sich Sparringspartner oder Hilfe von außen – oder beides. Wenn Sie kein kompletter Menschenverächter sind, bekommen Sie auch die zwischenmenschliche Seite hin.

Die Einsamkeit der Führungskräfte – muss nicht sein!

Ich bin überzeugt davon, wenn Führungskräfte sich einsam fühlen, haben sie ein veraltetes Verständnis von Führung, das auf Hierarchie, Kontrolle und einem unnahbaren Bild von Führung basiert. Und dabei ist es egal, auf welcher Hierarchieebene sie sich befinden. Einsam kann sich der CEO fühlen, aber auch der oder die Teamlead in unterster Ebene.

Führungskonzepte, die auf Zusammenarbeit, Offenheit, emotionaler Intelligenz, psychologischer Sicherheit und einer gesunden Work-Life-Balance beruhen, etablieren in Teams eine Kultur des Vertrauens, der Unterstützung und der gemeinsamen Verantwortung. In dieser Kultur ist die Führungskraft Teil des Teams, hat soziale Kontakte und sorgt für sich selber.

Und wenn die Führungskraft einmal nicht offen kommunizieren darf? Diese Situationen kommen im Business auch immer wieder einmal vor. Sei es eine bevorstehende Akquise oder ein Merger, ein vertrauliches Personalprogramm, ein bevorstehender Wechsel, der koordiniert verkündet werden soll, etc. Dann ist es in Ordnung klar zu sagen, darüber spreche ich momentan nicht. Unterschätzen Sie aber die Antennen der Belegschaft nicht! Oft wissen die Teams schon mehr, als die Führungskräfte glauben.

Lust auf weniger Einsamkeit?

Sie merken gerade, dass Sie an der einen oder anderen Stelle etwas verändern wollen? Sie sind sich unsicher, wie das zu Ihrer Unternehmenskultur passt? Sie wissen nicht genau, wie und wo anfangen? Gerne unterstütze ich Sie auf Ihrem Weg hin zu mehr Miteinander und weniger Einsamkeit.

Meine Freundin und Sparringspartnerin Gesa Oldekamp hat zur Blogparade zum Thema Einsamkeit aufgerufen. Dieser Blogbeitrag ist als Teil davon entstanden.

Ich bin Birgit Nüchter, Führungskräftecoach, Karrierecoach und Beraterin.

Birgit Nüchter

Sie sind neugierig geworden und möchten gerne mehr über Coaching mit mir erfahren?