Neurodivergente Mitarbeitende erkennen und erfolgreich führen

Als Führungskraft kennen Sie das: Da ist dieser eine Mitarbeitende, der brillante Ideen hat, aber ständig Deadlines übersieht. Oder die Kollegin, die in Meetings kaum spricht, aber schriftlich die präzisesten Analysen liefert. Vielleicht auch das Teammitglied, das bei Routineaufgaben Fehler macht, aber bei komplexen Projekten über sich hinauswächst. Was, wenn diese „Eigenarten“ keine Schwächen sind, sondern Anzeichen für eine andere Art zu denken?

Der blinde Fleck vieler Führungskräfte

Neurodivergenz (ein Begriff, der Variationen in der neurologischen Entwicklung beschreibt) ist längst kein Randphänomen mehr. Schätzungen zufolge sind 15–20 % der Bevölkerung neurodivergent, darunter Menschen mit ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen, Hochbegabung oder Hochsensibilität.

Das bedeutet: In einem Team von zehn Personen gibt es statistisch zwei bis drei neurodivergente Mitarbeitende. Oft unerkannt, oft missverstanden, aber voller ungenutztem Potenzial.

Der Business Case ist eindeutig: Unternehmen wie SAP oder Microsoft haben erkannt, dass neurodivergente Mitarbeitende außergewöhnliche Fähigkeiten mitbringen – von hyperfokussierter Problemlösung bis hin zu innovativen Denkansätzen. Wer als Führungskraft lernt, diese Potenziale zu erkennen und neurodivergente Mitarbeitende zu fördern, verschafft sich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.

Zu diesem Blogartikel wurde ich inspiriert von Anne Braczynski’s Artikel über Neurodivergenz und Hochbegabung – er bietet wertvolle Einblicke, die auch für Führungskräfte essenziell sind, um die Erfahrungswelt ihrer neurodivergenten Teammitgliedern zu verstehen.

Neurodivergenz verstehen: das Spektrum in Ihrem Team

Neurodivergenz ist kein Defizit, sondern eine andere Betriebsart des Gehirns. Stellen Sie sich vor, Ihr Team besteht aus verschiedenen „Gehirn-Betriebssystemen“, jedes mit eigenen Stärken und Herausforderungen.

Scanner-Persönlichkeiten sind die geborenen Generalisten: Sie springen zwischen Themen, erkennen Verbindungen, die anderen entgehen, und bringen frischen Wind in eingefahrene Prozesse. Als Führungskraft profitieren Sie von ihrer Vielseitigkeit: setzen Sie sie dort ein, wo Kreativität und Vernetzungsdenken gefragt sind.

Hochbegabte Mitarbeitende denken oft mehrere Schritte voraus, können aber bei Routineaufgaben unterperformen. Sie brauchen komplexe Herausforderungen und reagieren allergisch auf Mikromanagement. Ihre Superkraft: Sie durchschauen Systeme und finden elegante Lösungen für vermeintlich unlösbare Probleme.

ADHS-Betroffene bringen eine paradoxe Kombination mit: kurze Aufmerksamkeitsspanne bei langweiligen Aufgaben, aber übermenschlicher Hyperfokus bei interessanten Projekten. In der richtigen Rolle können sie in wenigen Stunden schaffen, wofür andere Tage brauchen.

Hochsensible Teammitglieder nehmen Nuancen wahr, die anderen entgehen. Sie sind die perfekten Frühwarnsysteme für Teamkonflikte, haben ein feines Gespür für Kundenbedürfnisse und liefern oft die detailliertesten Qualitätskontrollen.

Das Gemeinsame dieser Menschen? Alle haben eine Art „löchrigen Filter“. Neurodivergente Mitarbeitende nehmen mehr Reize wahr als neurotypische Menschen. Das kann zu Reizüberflutung führen, aber auch zu außergewöhnlichen Einsichten.

Die Neurologin Anne Braczynski beschreibt es so:

Reizüberflutung ist ein gemeinsames Merkmal vieler Phänomene wie Hochsensibilität, Hochbegabung oder ADHS. Neuroanatomisch liegt die Ursache in einer zu geringen Filterleistung im Gehirn – vor allem im Thalamus, dem „Tor zum Bewusstsein“.

Während die meisten Menschen Alltagsreize wie Geräusche, Gerüche oder Körperempfindungen unbewusst ausblenden können, gelangen sie bei Betroffenen ungefiltert ins Bewusstsein. Das führt einerseits schneller zu Überforderung, eröffnet andererseits aber auch kreative Verknüpfungen.

Filterstörungen sind selten auf nur ein Sinnesreiz beschränkt: Wer hochbegabt ist, zeigt oft auch hochsensible Züge. Auf diese Zusammenhänge bewusst angesprochen zu werden, empfinden viele Betroffene als entlastend, da ihre Wahrnehmungen sonst häufig abgetan werden – und gleichzeitig ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe und reduzierter Geräuschkulisse – z.B. im Großraumbüro – vorliegt.

Erkennungszeichen im Arbeitsalltag

Neurodivergenz zeigt sich selten mit einem Etikett. Stattdessen äußert sie sich in Verhaltensmustern, die auf den ersten Blick widersprüchlich wirken können. Neurodivergente Mitarbeitende gelten deshalb im Alltag oft als „schwierig“.

Schwankende Leistungen sind ein Klassiker: Ihre Mitarbeiterin liefert geniale Präsentationen, vergisst aber regelmäßig, Spesen einzureichen. Dieser schwankende Selbstwert entsteht oft durch Jahre der Konditionierung: mal „Genie“ mal „hoffnungsloser Fall“.

Unkonventionelle Problemlösung ist ein weiteres Indiz: Während das Team den vorgegebenen Weg geht, findet dieser Mitarbeiter eine völlig andere (oft bessere) Lösung. Neurotypische Menschen folgen etablierten Pfaden, neurodivergente Menschen erfinden neue.

Reizüberflutung zeigt sich subtil: Die Kollegin, die in Großraumbüros unkonzentriert wirkt, aber im Homeoffice aufblüht. Oder der Mitarbeiter, der in längeren Meetings zunehmend unruhig wird oder abschaltet.

Perfektionismus vs. scheinbare Nachlässigkeit: Stundenlang an einem E-Mail feilen, aber den Schreibtisch nicht aufräumen können. Details perfekt durchdenken, aber den Überblick verlieren.

Ein Fallbeispiel aus meiner Coachingpraxis: Eine Führungskraft erzählte mir von einem Software-Entwickler in seinem Team. Der Mann galt als „schwierig“, kam oft zu spät, wirkte unorganisiert, störte Meetings mit „unnötigen“ Fragen. Die Beispiele, die die Führungskraft nannte, veranlassten mich dazu, ihn zu ermuntern, genauer hinzusehen. Es stellte sich heraus: Die „unnötigen“ Fragen deckten kritische Systemschwächen auf, die später teure Ausfälle verhinderten. Der scheinbar chaotische Entwickler war in Wahrheit ein systemischer Denker, der Probleme drei Ebenen tiefer erkannte als andere. Ein klassischer Fall eines unverstandenen neurodivergenten Mitarbeiters und einer frustrierten Führungskraft. Das lässt sich aber lösen.

Praktische Führungstools für neurodivergente Mitarbeitende

Die gute Nachricht: Sie müssen kein Psychologe werden, um neurodivergente Mitarbeitende erfolgreich zu führen. Ein paar gezielte Anpassungen können Welten bewegen.

Hier sind 5 Tipps, die Ihnen beim Umgang mit neurodivergenten Mitarbeitenden helfen können:

Individuelle Arbeitsstile berücksichtigen: Während manche Menschen im Großraumbüro aufblühen, brauchen andere Rückzugsmöglichkeiten. Bieten Sie Wahlmöglichkeiten: Noise-Cancelling-Kopfhörer, flexible Arbeitszeiten, verschiedene Arbeitsplatzoptionen. Ein ADHS-Betroffener arbeitet vielleicht am besten mit Musik, während eine hochsensible Person absolute Stille braucht.

Meeting-Formate diversifizieren: Nicht jeder denkt laut oder spontan. Senden Sie die Tagesordnung vorab, geben Sie Bedenkzeit, nutzen Sie auch schriftliche Formate. Manche Ihrer besten Ideen kommen von Menschen, die in klassischen Brainstorming-Runden stumm bleiben.

Feedback-Gespräche anpassen: Neurodivergente Menschen brauchen oft konkreteres, häufigeres Feedback. Statt „Das war gut“ lieber: „Ihre Analyse der Kundendaten hat uns geholfen, drei kritische Problembereiche zu identifizieren.“ Seien Sie spezifisch und wertschätzend.

Projektverteilung nach Stärken: Geben Sie Scanner-Persönlichkeiten abwechslungsreiche Projekte, Hochbegabten komplexe Herausforderungen, ADHS-Betroffenen Projekte mit klaren Deadlines und Zwischenmeilensteinen. Nutzen Sie die natürlichen Neigungen, statt gegen sie zu arbeiten.

Strukturen schaffen: Paradoxerweise brauchen viele neurodivergente Menschen mehr Struktur, um ihre Kreativität zu entfalten. Klare Ziele, regelmäßige Check-ins, visuelle Projektmanagement-Tools können Wunder wirken.

Alle diese Tipps unterstützen übrigens nicht nur neurodivergente Mitarbeitende sondern sind generell eine gute Praxis.

Organisationskultur entwickeln

Neurodivergente Mitarbeitende erfolgreich zu führen, ist mehr als individuelle Anpassungen – es erfordert einen kulturellen Wandel. Psychologische Sicherheit schaffen ist das Fundament. Und dieses Fundament ist ein gutes Fundament – egal, ob Sie neurodivergente Mitarbeitende haben oder nicht.

Neurodivergente Menschen haben oft Jahrzehnte der Erfahrung gemacht, „anders“ zu sein. Sie brauchen die Gewissheit, dass sie authentisch sein können, ohne Nachteile zu fürchten. Schaffen Sie eine Kultur, in der Fehler als Lernchancen gelten und verschiedene Arbeitsweisen geschätzt werden. Dazu gehört:

Diversität im Denken als Wert etablieren: Machen Sie sichtbar, dass unterschiedliche Denkweisen erwünscht sind. Feiern Sie nicht nur die extrovertierten Ideengeberinnen, sondern auch die leisen Analytiker und die akribischen Qualitätsprüfer. Zeigen Sie in Teammeetings auf, wie verschiedene Perspektiven zu besseren Ergebnissen geführt haben.

Sensibilisierung des gesamten Teams: Ohne Etiketten oder Diagnosen zu diskutieren, können Sie Bewusstsein schaffen. Workshops zu verschiedenen Arbeitsstilen, Kommunikationstypen oder Stressmanagement helfen allen – und besonders neurodivergenten Teammitgliedern.

Stigmatisierung vermeiden: Neurodivergenz ist keine Krankheit, die „behandelt“ werden muss. Es ist eine neurologische Variation. Sprechen Sie von Stärken und Herausforderungen, nicht von Defiziten. Ein ADHS-Betroffener hat nicht „Aufmerksamkeitsprobleme“, sondern einen anderen Aufmerksamkeitsstil.

Von der Herausforderung zur Chance

Neurodivergenz ist kein Problem, das gelöst werden muss – Neurodivergente Mitarbeitende sind ein Potenzial, das gehoben werden will. Die Unternehmen, die das früh verstehen, werden die Innovationstreiber von morgen sein.

Denken Sie an die großen Durchbrüche der Menschheitsgeschichte: Sie kamen selten von Menschen, die „normal“ dachten. Von Einstein bis Jobs, von Temple Grandin bis Greta Thunberg – viele neurodivergente Menschen haben unsere Welt geprägt.

Warum sollte das in Ihrem Unternehmen anders sein?

Der Schlüssel liegt nicht darin, neurodivergente Mitarbeitende zu „reparieren“ oder sie in neurotypische Strukturen zu pressen. Er liegt darin, Arbeitsumgebungen zu schaffen, in denen verschiedene Gehirn-Betriebssysteme optimal funktionieren können.

Das ist kein Akt der Nächstenliebe – es ist strategische Personalführung. In einer Zeit, in der Innovation und Agilität über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, sind diverse Denkweisen nicht nice-to-have, sondern must-have.

Beginnen Sie klein: Beobachten Sie Ihr Team mit neuen Augen. Fragen Sie sich bei scheinbar „schwierigen“ Verhalten: Was könnte die positive Absicht dahinter sein? Welche Stärke verbirgt sich hinter dieser vermeintlichen Schwäche?

Neurodivergente Mitarbeitende warten nicht darauf, repariert zu werden. Sie warten darauf, verstanden und wertgeschätzt zu werden. Geben Sie ihnen diese Chance.

Ihre nächsten Schritte

Reflexionsfragen für die eigene Führungspraxis:

  • Welche Mitarbeitende in Ihrem Team zeigen „widersprüchliche“ Leistungsmuster?
  • Wie reagieren Sie bisher auf unkonventionelle Arbeitsweisen?
  • Welche ungenutzten Talente könnten in Ihrem Team schlummern?
  • Wie offen ist Ihre Unternehmenskultur für verschiedene Denkstile?

Sofortmaßnahmen, die Sie heute umsetzen können:

  • Führen Sie Einzelgespräche und fragen Sie nach bevorzugten Arbeitsweisen
  • Experimentieren Sie mit verschiedenen Meeting-Formaten
  • Schaffen Sie Rückzugsmöglichkeiten im Büro
  • Überdenken Sie Ihre Feedback-Kultur

Sie möchten tiefer in das Thema neurodivergene Mitarbeitende einsteigen? Als Coach für Führungskräfte unterstütze ich Sie dabei, das Potenzial neurodivergenter Teams zu entfalten. Gemeinsam entwickeln wir Ansätze, die zu Ihrem Unternehmen passen.

Kontaktieren Sie mich für ein unverbindliches Erstgespräch. Denn in einer Welt, die sich immer schneller dreht, sind es die verschiedenen Denkweisen, die den Unterschied machen.

Anmerkung: Bild erstellt mit Hilfe von KI

Ich bin Birgit Nüchter, Führungskräftecoach, Karrierecoach und Beraterin.

Birgit Nüchter

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